Der Schleier
Kommt eine Frau in Stöckelschuhn auf ganz verkrampften Füßen,
so wird sie keiner kritisiern, sie muß das selber wissen.
Trägt eine ihren Rock so eng, daß alle Nähte krachen,
so regt sich heute niemand auf, das ist doch ihre Sache.
Aber wenn eine Frau ihr volles Haar bedeckt,
die Formen ihres Körpers ganz versteckt,
indem sie einen weiten Schleier trägt,
dann auf einmal ist sie die Dumme und die andern schlau,
denn jeder, der sie sieht, weiß ganz genau:
sie ist die unterdrückte Frau.
Sie wird verspottet, attackiert, man will es ihr verbieten,
man sagt, in unsrem Land sei kein Platz für solche Sitten,
und wenn sie schon hier leben will, soll sie sich integrieren.
Bei uns sind Frauen eben frei, das muß sie doch kapieren.
Selten will jemand wissen, wie sie selber denkt,
wie sie vielleicht an ihrem Glauben hängt,
der ihr ganz eine andre Freiheit schenkt:
Freiheit von jenem Blick, der eine Frau bemißt,
danach, wie attraktiv ihr Körper ist,
und sie als Mensch dabei vergißt.
Man hat auch längst in ihrem Land versucht, sie zu belehren,
wie rückständig und überholt die alten Werte wären.
Der große Hit, der letzte Schrei, das Beste nur vom Besten,
das sei die Schönheitsdiktatur der Mode aus dem Westen.
Aber auf diese Art Befreiung pfeift sie gern,
die dient ja doch vornehmlich jenen Herrn,
die voller Gier die Kassen klingeln hörn.
Und so wählt sie den Schleier jeden Morgen neu,
und manchmal selbstbewußt und manchmal scheu
bleibt sie den eignen Träumen treu.
© Claudia Mitscha-Eibl, A-2100 Korneuburg
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